Montag, 6. Februar 2012

"It is a shame, eh?"

Im Anschluss an die erste Schulwoche absolvierten wir samstags gleich zwei Ausflüge - zunächst ging es mit Minibussen in den Regenwald zum Canopy Walkway. Zurück in Cape Coast stand dann das bekannte ehemalige Sklavenkastell Cape Coast Castle, direkt am Meer gelegen, auf unserem Programm.
In den Festungsmauern von Cape Coast Castle
Unser Begleiter durch die Festungsanlage von Cape Coast, Cape Coast Castle, heißt Oscar, ist jung und hat eine ganz sanfte, ausdrucksstarke Stimme. Er spricht mit recht starkem ghanaischem Akzent Englisch, aber viele Schülerinnen berichten anschließend, dass sie ihn dennoch bedrückend gut verstanden haben. Bedrückend deshalb, weil das, was er uns zu erzählen hat, während wir uns auf einen knapp einstündigen Rundgang durch das direkt am Meer unter gleißendem Sonnenschein gelegene Fort machen, wenig amüsant ist.
Hier, genau an diesem 1637 von den Niederländern begründeten Ort, haben unzählige Menschen gelitten und sind gestorben. Sie waren auf die eine oder andere Art in Gefangenschaft geraten, meistens als Kriegsopfer oder als Schuldsklaven, oft aber auch wurden sie einfach verschleppt, um als Gegenleistung für die in Afrika begehrten Waffen aus europäischer Produktion zu dienen, mit denen sich afrikanische Stämme untereinander bekriegten. Cape Coast Castle, das nacheinander einer verwirrenden Zahl europäischer Mächte, darunter Schweden und Dänen, diente, ehe es letztlich 1665 in britische Hand geriet, wurde zum Sammelpunkt all dieser Menschen, denen das höchste Gut genommen worden war, das sie besaßen – ihre persönliche Freiheit.
Die Mauern des Gebäudekomplexes sind blendend weiß gekälkt. Die Sonne brennt unbarmherzig vom wolkenlosen Himmel. Nichts könnte größer sein als der Kontrast, der unsere Gruppe erwartet, als wir Oscar hinab in die feuchten, dunklen Kellergewölbe der Festungsanlage folgen, wo er uns zunächst in den hohen Raum führt, in dem die männlichen Gefangenen auf ihren Abtransport warten mussten.
Mir ist schlagartig ungeheuer beklommen zumute. Heute ist diese unterirdische Halle leer und sauber, doch was mag sich hier vor dreihundert Jahren an menschlichen Schicksalen und an Elend abgespielt haben? Oscars Erklärungen versuchen eine Vorstellung vom Ausmaß des Leids zu vermitteln, das Menschen einander antun können, wenn sie jegliches Verständnis für Würde, zwischenmenschlichen Respekt und Moral verlieren. Wer die Informationen, die Oscar mit seiner leisen Stimme im Halbdunklen vorträgt und immer wieder mit einem hilflos klingenden „It is a shame, eh?“ unterstreicht, versteht, wer sie wirklich an sich heranlässt, kann wohl nur schockiert reagieren. Ich kann es an den Gesichtern vieler Schülerinnen sehen – sie haben trotz ghanaischem Englisch genug verstanden, und was sie hier begreifen, geht ihnen nahe.
Ich wollte unbedingt hierherkommen, wollte lernen, vor Ort und hautnah. Und jetzt muss ich verhindern mich abzuschotten, dichtzumachen, weil mich die Intensität der Begegnung erschüttert und überfordert. Wie soll ich mir hier 1000 eingepferchte Menschen ausmalen, die angekettet und in ihren eigenen Exkrementen liegend mit nur einer einzigen Lichtquelle hoch oben in der steinernen Wand vor sich hin vegetieren, bis das nächste Sklavenschiff ankommt, das sie abtransportiert in eine völlig ungewisse, aber definitiv unfreie Zukunft irgendwo in der Karibik oder später in den südlichen Staaten der USA? Tausend Menschen – das ist mehr als das gesamte St. Hildegardis-Gymnasium inklusive aller Lehrkräfte und Mitarbeiter… eine unfassbar große Zahl an menschlichen Schicksalen, immer wieder neu, denn der lukrative Sklavenhandel dominierte diesen Ort über dreihundert Jahre.
Neulich noch hat das Thema in meinem Unterricht im Kurs Englisch/Geschichte im Jahrgang 9 eine Rolle gespielt. Ich wusste damals schon, dass ich nach Ghana kommen würde, wusste auch, dass wir Cape Coast besuchen würden. Ich habe versprochen zu berichten, und so höre ich Oscar zu und folge ihm, als wir wieder ans blendende Tageslicht hinaufsteigen. Der Hof mit der dem Atlantik zugewandten Mauer liegt eigentlich malerisch. Irgendwer hat alte Kanonenkugeln aufgestapelt, passend zu den Geschützen, die in Reih und Glied dem glitzernd blauen Meer entgegensehen. Geckos, schillernd farbenfroh, sonnen sich auf den Kanonenkugeln, und eigentlich wäre dies der ideale Ort für ein paar Fotos, aber Oscars Erzählung, als er berichtet, wohin die Sklaven, in den Schiffen eingepfercht wie Sardinen, reisten, seine Handbewegung hinaus aufs Meer hin auf ein unbekanntes Ziel, nimmt mir diese Lust. Dies ist kein schöner Ort, auch wenn er heute so schön wirkt.
Wir steigen wieder hinab, diesmal in die Frauenquartiere, nachdem wir verschiedene Gedenkstellen passiert haben. Der Kranz, den Michelle Obama und ihre Töchter bei ihrem Besuch vor zwei Jahren hier niederlegten, ruht zusammen mit jenen anderer Stifter aus der amerikanischen Diaspora etwas verwittert, aber stolz präsentiert, in einem Raum gleich neben einem wieder errichteten Schrein für eine Naturgottheit, der vor dem Bau der Festung an diesem Ort ansässig war und nun wieder von einem Priester betreut wird.
Auch in den Frauenzellen ist es dunkel und bedrückend, zumal Oscar von den Vergewaltigungen berichtet, die hier an der Tagesordnung waren. Wieder sind wir erleichtert, zurück an Tageslicht zu dürfen, auch wenn uns die Hitze an diesem Nachmittag fast erschlägt. Ein wenig Schatten spenden die Tore eines großen Mauerdurchgangs in Richtung Meer, über dem ein Schild prangt: Gate of No Return. Hier verließen die jeweils verkauften Sklaven Cape Coast Castle und wurden in Booten hinaus zu den ankernden Sklavenschiffen gebracht. Eine Rückkehr gab es für sie nicht, und wenn sie die entbehrungsreiche und gefährliche Fahrt über den Atlantik überlebten, erwartete sie ein restliches Leben voller Arbeit in Unfreiheit und oft brutaler Gewalt.
Warum haben sich all diese Menschen nicht gewehrt? Die Frage lese ich in meinem eigenen Kopf, aber auch in den Gesichtern vieler Schülerinnen, als wir durch das Tor kurz hinaus an die Kaimauer treten. Hier tobt das Leben, vielfältig, laut und bunt. Die traditionellen ghanaischen Fischerboote, die wir auch in Moree bewundern können, liegen hier, und wie immer sieht man jede Menge Kinder. Sie toben im Wasser, spielen Fangen, beäugen uns neugierig. Es ist so eine lebhafte Szene, und während Oscar uns erzählt, wie anlässlich der ghanaischen Unabhängigkeit von der britischen Kolonialmacht zwei einst von hier verschleppte Sklaven zurückgebracht wurden, weist er auf das Schild hin, das als Gegenstück zu der innen angebrachten Holztafel außen über dem Tor hängt: Gate of Return, so steht es dort. Der Stolz ist unserem Guide anzumerken, und als ich vor der Rückkehr in das Castle noch einmal auf die lebhafte Szene am Kai schaue, kann ich es ihm nachfühlen. Manche der Kinder tragen zerrissene Kleidung. Viele sind barfuß, aber sie sind unabhängig, frei und stolz darauf.
Ein Ort voller Leben: Kaimauer an der Door of Return
Wenig später erhalten wir unsere Antwort auf die schwelende Frage nach dem Mangel an Gegenwehr – jedes Zeichen von Rebellion oder Protest wurde unnachgiebig und brutal unterdrückt. Oscar führt uns zu einem niedrigen Türeingang, bei dem wir uns fast alle ducken müssen, um uns beim Betreten nicht den Kopf zu stoßen. Zuvor hat er gewarnt, dass alle Besucher, die an Klaustrophobie leiden, besser nicht hineingehen sollen. Eng beieinander stehen wir im fast völligen Dunkel und orientieren uns hin zur einzigen Lichtquelle, die von der Tür kommt, und da fällt genau diese Tür plötzlich ins Schloss. Es ist pechschwarz um uns herum, stickig, schwül. Die Atemluft wirkt plötzlich erstickend knapp. Ein, zwei Schülerinnen greifen impulsiv nach ihren Handys, und die Displays erleuchten als Lichtpunkte das unmittelbare Umfeld. Dies war die Arrestzelle, berichtet Oscar. Wer sich wehrte, landete hier, in Ketten, und er blieb einfach hier. Oft waren es fünfzig Männer, die hier belassen wurden, bis sie starben. Mit ihren Ketten und Fingernägeln, selbst mit ihren Zähnen hinterließen sie Kratzspuren, ein verzweifeltes letztes Lebenszeichen, auf dem Boden und an den Wänden, ehe ihr Leben endete. Mit ihnen starb jede Opposition gegen die entmenschlichte Behandlung.

Wie lange stehen wir so entsetzt im Dunkeln? Vielleicht eine, maximal zwei Minuten – und es kommt mir vor wie eine halbe Ewigkeit. Zutiefst erschreckt stolpere ich, als die rettende Tür sich öffnet, hinaus ins Licht. Aus meinem Reiseführer wusste ich, dass diese Selbsterfahrung Teil der geführten Touren in Cape Coast Castle ist. Ich war also ein wenig darauf eingestellt, und dennoch verfehlt die Erfahrung ihre Wirkung in mir nicht.
Der Rest der Tour vergeht für mich in einer Art Trance, die durch die drückende Hitze noch intensiviert wird. Erst im wirklich gut gemachten kleinen Museum, das die Hintergründe der Geschichte dieses Ortes anschaulich und informativ aufbereitet, werde ich, nachdem sich unser Guide Oscar schon von uns verabschiedet hat, wieder richtig wach. Eine Gruppe Schülerinnen und Schüler der Obiri Yeboah Senior High School aus Takoradi, die, wie es der Zufall will, schon vormittags im Kakum National Park direkt hinter uns waren, kommt in den Raum und erkennt mich wieder, während ich gedankenversunken auf einer Bank unter einem kühlenden Ventilator sitze. Viele kurze Gespräche mit einzelnen Schülerinnen und Schülern folgen, ehe die Gruppe weiterzieht und ich alleine im schlagartig wieder stillen Museumsraum mit den sehr komplexen Erfahrungen des heutigen Nachmittags zurückbleibe.
Eine, vielleicht zwei Unterrichtsstunden – eine keinesfalls ausreichende Zeit – haben wir im regulären deutschen Geschichtsunterricht für die Vermittlung einer kleinen Ahnung dessen, was ich heute so hautnah und eindrücklich erfahren habe. Wie hat Oscar es immer wieder während unseres Rundgangs ausgedrückt?
„It is a shame, eh?“
(Marion Müller)
Auch eine Schülerin, Alice Gierke, hat unter einem fast identischen Titel einen Bericht zu diesem sehr bewegenden und nachdenklich stimmenden Besuch in Cape Coast Castle geschrieben. 

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